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Politik im Machtrausch

Machtmissbrauch ist wohl so alt wie die Politik selbst. Doch was treibt Menschen eigentlich dazu? Und wie ist dem systematisch beizukommen? Ist Macht etwa die eigentliche Motivation um in die Politik zu gehen?

Machtrausch

Das Wort Macht erlebt im Moment ja nicht gerade seine besten Zeiten. In der Regel wird Macht mit rücksichtlosem, despotischem und egozentrischem Verhalten assoziiert. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Macht kann auch als Möglichkeit verstanden werden, etwas bewirken oder beeinflussen zu können.

Das Stanford-Experiment
Ein psychologisches Experiment aus dem Jahr 1971 bei dem die Machtverhältnisse in einem Gefängnis simuliert wurden, zeigt die menschliche Neigung zur Macht über andere. Dabei entschieden die Forscher per Münzwurf ob ein Proband Wärter oder Gefangener wurde. Im Zuge des Rollenspiels entwickelten sich die (vorab auf geistige Durchschnittlichkeit und Gesundheit getesteten) Teilnehmer bis auf wenige Ausnahmen in machtbesessene Wärter und unterwürfige Gefangene. Nach einigen Misshandlungen musste das Experiment abgebrochen werden. Mittlerweile wurde es mehrmals verfilmt.

Bei genauerer Betrachtung kann Macht – auf Seiten der Mächtigen ebenso wie der Machtlosen – durchaus Sinn machen. Menschen unterwerfen sich der Macht in der Regel nur dann freiwillig, wenn sie im Gegenzug dafür etwas Lohnenswertes erhalten. Dies kann etwa Sicherheit, Schutz, ein regelmäßiges Einkommen, aber auch Orientierung sein. Gleichzeitig kann auch das Ausüben von Macht eine positive Erfahrung sein. In seinem Buch „Die Psychologie der Macht“ versucht der Psychologe und Management-Coach Michael Schmitz dem Machtstreben seiner Klienten auf den Grund zu gehen und resümiert: „Macht nährt sich selbst. Sie stärkt Selbstwirksamkeit und Selbstwert. Sie verschafft Ansehen, Anerkennung, Anhänger“.
Auch die renommierte Psychologin Susan Fiske von der Princeton University kann das Streben nach Macht gut begründen: „Macht erhöht die persönliche Handlungsfreiheit, die Motivation und nicht zuletzt auch den sozialen Status“. So weit, so gut.
Die andere Wahrheit ist, dass Menschen in Machtpositionen dazu neigen ihre Fähigkeiten zu überschätzen, höhere Risiken einzugehen und andere Sichtweisen ebenso zu ignorieren wie andere Menschen. So unterschiedlich die Zugänge der Sozialpsychologen auch sind, in einem Punkt scheinen sie sich einig zu sein: Macht verändert die Persönlichkeit eines Menschen.

„Ich denke Machthaber müssen spüren, dass sie ihre Macht nicht besitzen, sondern dass sie ihnen von anderen (durch Wahlen) verliehen wurde und auch wieder (durch Abwählen) entzogen werden kann.“

Das Paradoxon der Macht

Dem renommierten Psychologen Dacher Keltner von der Universität Berkeley zufolge, lässt sich Machterfahrung als ein Vorgang beschreiben, bei dem „jemand einem den Schädel öffnet und den Teil herausnimmt, der besonders wichtig für Empathie und sozial angemessenes Verhalten ist.“ In seinem Buch „Das Paradoxon der Macht“ stellt er unser machiavellistisches, negativ geprägtes Bild von Macht auf den Kopf und beschreibt ein Phänomen, das als „Paradoxon der Macht“ Einzug in die Sozialpsychologie gefunden hat. Keltner zufolge erlangt man in erster Linie durch soziale Intelligenz und empathisches Verhalten Macht. Doch mit zunehmender Machtberauschung verliert der Mensch eben jene Eigenschaften, durch die er seine Macht erworben hat. Keltner zufolge ist Macht eben nicht die Fähigkeit brutal und rücksichtslos zu agieren, sondern für andere Gutes zu tun. Ein interessanter Gedanke.

In jedem Fall ist Macht eine entfesselnde Kraft, die einen Menschen im Extremfall auch in den Wahnsinn treiben kann. Wenn dazu noch einige situative Faktoren hinzukommen, wie etwa ein weit verbreitetes Gefühl von Ungerechtigkeit, Demütigung und Hoffnungslosigkeit, auch eine ganze Gesellschaft. Dies haben uns etwa Hitler oder Stalin mit rund 50 beziehungsweise 20 Millionen Opfern eindrucksvoll und nachhaltig vor Augen geführt.
In der Tat ist und war unser Planet an politischen Machtexzessen stets reich bestückt. Und zwar nicht nur in Afrika, dem Mittleren oder Nahen Osten. Auch die europäische Geschichte hat hier einiges zu bieten. Allzu gerne vergessen wir, dass die politische Landschaft Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Diktatoren geradezu übersät war, denen für ihren eigenen Machterhalt kein Opfer zu hoch war und die sich in ihren Gräueltaten gegenseitig überboten. Man denke etwa an Rumänien (Ceausescu), Spanien (Franco), Griechenland (Ioannidis), Italien (Mussolini), Estland (Päts), Litauen (Smetona) oder Portugal (Salazar). Der Umstand, dass man heute in Zusammenhang mit dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko gerne vom „Letzten Diktator Europas“ spricht, lässt angesichts dessen sogar ein wenig Hoffnung aufkommen.

Verantwortung oder Gelegenheit?

Doch wie ist den Machtexzessen, an denen die Menschheit so oft scheitert, effektiv beizukommen? Welche Faktoren entscheiden darüber, ob Macht als Verantwortung oder als persönliche Gelegenheit zur Selbstbereicherung wahrgenommen wird?
Die Psychologin Annika Scholl von der Universität Tübingen beforscht diese Frage seit geraumer Zeit und nennt diesbezüglich drei entscheidende Faktoren: „Ob Macht als Verantwortung oder als Gelegenheit verstanden wird, hängt vom kulturellen Kontext, der Person selbst und insbesondere der konkreten Situation ab“. (siehe Info-Box) Ein interessantes Detail dabei ist, dass „in westlichen Kulturen die Menschen Macht eher als Gelegenheit verstehen, in fernöstlichen Kulturen eher als Verantwortung“, so Scholl.

Legitimation, Kontrolle & Transparenz

Ob Macht einen Menschen zum Guten (auch das ist möglich!) oder zum Schlechten verändert, hängt jedoch nur zum Teil von seiner Persönlichkeit ab. Nicht minder entscheidend sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unter denen ein Machthaber agiert. Ein prominenter wie entschlossener Verfechter dieser These ist Philip Zimbardo, emeritierter Professor für Psychologie an der amerikanischen Standford-Universität. Mit seinem berühmten Stanford-Gefängnis-Experiment hat er eindrucksvoll und nachhaltig bewiesen, dass Menschen den Verführungen der Macht in der Regel kaum widerstehen können. Für ihn besteht das einzige wirksame Mittel gegen Machtmissbrauch aus klaren Regeln, institutionalisierter Transparenz, Offenheit und regelmäßigem Feedback auf allen Ebenen.

Auch der Sozialpsychologe Joris Lammers von der Universität Köln sieht die wichtigsten Faktoren auf der gesellschaftlichen Ebene: „Ich denke Machthaber müssen spüren, dass sie ihre Macht nicht besitzen, sondern dass sie ihnen von anderen (durch Wahlen) verliehen wurde und auch wieder (durch Abwählen) entzogen werden kann“. Mit anderen Worten: Macht bedarf der Legitimation und Kontrolle um nicht aus dem Ruder zu geraten. „Ob Machthaber dies sehen oder nicht, hängt unter anderem von einer aktiven Opposition, einer kritischen Presse, und der Bereitschaft der Bevölkerung gegen Ungerechtigkeit zu demonstrieren, ab“, so Lammers.
Das effektivste Mittel gegen Machtmissbrauch scheint wohl die Demokratie selbst zu sein. In ihr finden sich Legitimation (durch Wahlen), Kontrolle (durch Gewaltenteilung) und Transparenz (durch Medien) zumindest konzeptionell fest verankert. Und wenn dies in der Praxis fehlt, muss man handeln.

Der Macht auf der Spur
Eine Machtposition kann als Verantwortung und/oder als Gelegenheit verstanden werden. Verantwortung meint hier ein Gefühl von innerer Verpflichtung bei Machtinhabern. Unter Gelegenheit ist das Erleben von Freiraum bzw. Chancen zu verstehen. Die Forschung weist darauf hin, dass verschiedene Faktoren beeinflussen, wie Personen eine Machtposition verstehen und ausüben:

(1) Kultur: In westlichen Kulturen verstehen Menschen Macht eher als Gelegenheit, in fernöstlichen Kulturen eher als Verantwortung. Vermutlich wird dies vor allem durch die Werte beeinflusst, die innerhalb einer Kultur verbreitet sind.
(2) Persönliche Faktoren: Auch persönliche Werte spielen eine wichtige Rolle. Personen mit prosozialen Werten – die also z.B. hohen Wert auf das Wohlbefinden anderer Personen legen – verstehen Macht eher als Verantwortung. Personen mit individuellen Werten – die also z.B. viel Wert auf ihr eigenes Befinden legen – scheinen Macht eher als Gelegenheit zu verstehen.
(3) Die konkrete Situation: Wichtiger als die Persönlichkeit kann dabei die konkrete Situation sein. Hier konnten wir beispielsweise zeigen: Mächtige verstehen ihre Macht innerhalb einer Gruppe dann als Verantwortung, wenn sie sich hoch mit dieser Gruppe identifizieren. Kurz gesagt: wenn sie eher an das „wir“ statt das „ich“ denken.

Dr. Annika Scholl, Stellvertretende Leiterin der Arbeitsgruppe Soziale Prozess, Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM), Tübingen – Deutschland

Foto/Video: Shutterstock.

Geschrieben von Veronika Janyrova

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